Coronakrise im Spiegel der Risikoforschung

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Die Coronakrise im Spiegel der Risikoforschung: Antifaschistische Demonstration in Berlin (l.), Demonstration von Verschwörungsgläubigen und Rechtsextremen in Berlin (r.).

Der Streit um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen in der Coronakrise zum Schutz gegen eine Covid-19 Infektion wird inzwischen mit zunehmender Härte ausgetragen; worum es den unterschiedlichen Akteuren dabei geht, untersucht die Risikoforschung.

Erkenntnisse der Risikoforschung

Die Zustimmung zu der aktuellen Politik der Bundesregierung im Umgang mit der Coronakrise ist nach wie vor hoch. Rund zwei Drittel der Bevölkerung unterstützen den Kurs der Bundesregierung einer vorsichtigen und kontrollierten Öffnung des öffentlichen Lebens. Mehr als die Hälfte der Deutschen bevorzugt weiterhin das Festhalten an den geltenden Regeln gegenüber einer stärkeren Lockerung der Restriktionen. Aber zunehmend wächst der Druck, angesichts der sinkenden Zahlen der schweren Fälle mit Todesfolgen die bestehenden Restriktionen schnell und umfassend außer Kraft zu setzen und wieder zur Normalität zurückzukehren.

Vor allem gibt es eine lautstarke Bewegung, die durch Demonstrationen und Aktionen öffentlich gegen die Maßnahmen der Bundes- und Landeregierungen protestiert. Gleichzeitig sind rund ein Viertel der in Deutschland lebenden Menschen der Auffassung, dass die Maßnahmen angesichts steigender Infektionszahlen verschärft werden sollen. In diesem Konflikt ist es ratsam, sich etwas intensiver mit den Erkenntnissen aus der wissenschaftlichen Risikoforschung vertraut zu machen.

Abstandhalten als Lebensversicherung in der Coronakrise

Inzwischen infizieren sich wieder mehr als 2.000 Personen am Tag in Deutschland mit dem Covid-19 Virus. Die gute Nachricht ist aber, dass sich die meisten Erkrankten schnell wieder erholen und die Zahl der Toten in Deutschland auf einem sehr niedrigen Niveau stagniert. Aber ohne Schutzmaßnahmen reichen schon wenige Hundert Infizierte aus, um eine neue Welle der Epidemie über Deutschland auszulösen. Die galoppierenden Zahlen in den USA, in Indien und Brasilien sind deutliche Zeichen dafür, dass der Virus nicht von selbst verschwindet, zumindest nicht, bis eine Durchseuchung der Bevölkerung erfolgt ist oder ein effektiver Impfschutz vorliegt. Gleichzeitig ist auch klar, dass ein weitgehender Stillstand aller sozialer, ökonomischer und kultureller Aktivitäten nicht auf Dauer aufrechterhalten werden kann. Aber solange sich das Virus weiterverbreitet, kann es nur nach dem Motto „Kleine Schritte und strikte Beobachtung der Fallzahlen“ gehen. Sonst laufen wir unaufhaltsam auf eine zweite Welle zu. Kritiker dieser Politik verweisen gerne auf das Beispiel Schweden, wo Schulen und Kitas weiter geöffnet sind und man auf die freiwillige Mitwirkung der Bevölkerung setzt. Aber gerade das Beispiel Schwedens zeigt: Verglichen mit der Bevölkerungszahl und der statistisch zu erwartenden Zahl von Todesfällen pro Tag steht das Land keineswegs besser da als andere Länder in Europa, erst recht nicht als Deutschland. Zudem ist Schweden wesentlich dünner besiedelt und das Einhalten von freiwilligen Regeln hat doch eine wesentlich höhere Wirksamkeit als bei uns. Es bleibt also dabei: Abstand halten, Hygieneregeln beachten und Berührungspunkte vermeiden sind zurzeit die einzig wirksamen Gegenmittel gegen die Ausbreitung der Krankheit.

Trittbrettfahrer der Krise

Das passt vielen nicht in den Kram und es werden hanebüchene Theorien und Erklärungen in die Welt gesetzt, um das Risiko durch Covid-19 zu relativieren oder andere interessengebundene Botschaften unter dem Deckmantel der Entrüstung über die angebliche Entmündigung der Bürger und Bürgerinnen zu transportieren. Einige Gruppen nehmen die gerade aufflammende Verunsicherung über die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen zum Anlass, aus der Krise politischen Gewinn zu schlagen. Dabei lassen sich zwei für die Gesellschaft gefährliche Tendenzen erkennen:

Zum ersten die Instrumentalisierung der Coronakrise durch die rechten Bewegungen, vor allem der Reichsbürger und der Nationalisten. In ihrer Lesart sind vor allem die Globalisierung, die Aufnahme von Flüchtlingen aus anderen Ländern und die Entwicklung hin zu einer toleranten multikulturellen Gesellschaft an dieser Krise schuld. Sie befürworten ein klares Bekenntnis zur Renationalisierung und zu Entsolidarisierung mit anderen Ländern, kurzum zu einer auf die eigene Nation ausgerichteten Abschottungspolitik. Und aus dieser Sicht sind eindeutig die Flüchtlinge, Ausländer und die viel zu globalisierungsfreundliche Regierung für das Debakel verantwortlich. Diese Argumentation ist völlig kurzsichtig. Gerade während der Krise profitieren wir alle von der überstaatlichen Zusammenarbeit etwa in der Absicherung von globalen Lieferketten, der Einsatzfähigkeit globaler Forschung etwa zur Entwicklung eines Impfstoffes und dem Erfahrungsaustausch über die Wirksamkeit von Maßnahmen und Regelungen. Wir alle genießen die Vorzüge internationaler und globaler Identität und Solidarität. Die Länder, deren politische Führung auf nationale Alleingänge gesetzt hat, sind von der Pandemie am stärksten betroffen, vor allem die USA.

Zum anderen wird von eher links orientierten Vertreterinnen und Vertretern des politischen Spektrums die jetzige Krise dazu genutzt, den Virus als Folge des gnadenlosen Kapitalismus und der liberalisierten Weltwirtschaftsordnung zu sehen. Hier wird eine enge Beziehung zwischen kapitalistischer Wirtschaftsweise, den Tiermärkten in China, dem internationalen Handel und den angeblich nur auf Profit ausgerichteten Aktivitäten der Großkonzerne hergestellt. Jetzt gelte es, endlich den todbringenden Kapitalismus zur Strecke zu bringen. Auch diese Argumentation ist wenig überzeugend: Tiermärkte gibt es in China seit vielen Jahrhunderten und Seuchen durch Viren, die von Tieren auf Menschen übertragen werden, plagen die Menschheit seit Jahrtausenden. Das kann man beim besten Willen nicht alles dem globalen Kapitalismus in die Schuhe schieben. Dazu kommt: Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der privaten Akteure haben vieles aufgefangen, was ansonsten die Krise verschlimmert hätte. Viele global agierende Unternehmen, aber auch klein- und mittelständische Unternehmen, haben in den letzten Wochen kreative und innovative Aktivitäten entfaltet, um effektive Lösungen und Auswege aus Engpässen zu entwickeln.

In der Pluralität und Vielfältigkeit liegt die Stärke Deutschlands und Europas. Sie können helfen, Lösungen zu entwickeln, die weit über die Krise hinaus neue wichtige Impulse für Wirtschaft und Gesellschaft, etwa in Richtung Nachhaltigkeit, setzen können. Dazu gehört aber auch, dass in Politik und Wirtschaft der soziale Aspekt der Marktwirtschaft nicht vergessen wird. Jetzt ist auch die Stunde der Solidarität mit den Schwachen und Benachteiligten, die vor allem unter der Krise zu leiden haben. Es gilt hohe Anerkennung für diejenigen zum Ausdruck zu bringen, die besondere Leistungsbereitschaft und Aufopferungsbereitschaft in der Aufrechterhaltung des Gesundheitswesens und der Kritischen Infrastruktur gezeigt haben, sowie Solidarität mit den Personen aufzubringen, die durch die Krise in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind. Die Verbindung von marktwirtschaftlicher Flexibilität und Effizienz sowie von politischer und gesellschaftlicher Solidarität und Empathie ist für die Bewältigung der Krise essentiell. Nur wenn man glaubhaft wirtschaftliche Effizienz und soziale Fairness zusammen verfolgt, kann man den Rattenfängern von links und rechts wirksam entgegentreten.

Rationale Abwägungskultur

Trotz der Notwendigkeit, die bestehenden Maßnahmen weiter fortzuführen, können wir auch nicht im Erstarrungsmodus verbleiben. Denn auch der Stillstand des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens bringt Leid und Verluste mit sich. Arbeitslosigkeit, Konkurse, dramatische Einkommensverluste, räumliche Enge in kleinen Wohnungen und mangelnde Bewegung sind direkte Auslöser für menschliches Leid und gesundheitliche Belastungen. Gefragt ist daher eine Abwägungskultur, bei der es auf beiden Seiten der Waage um die Vermeidung von Leiderfahrung geht.

Ein kluges schrittweises Öffnen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aktivitäten bei gleichzeitiger Wahrung der Abstandsregeln, vor allen in Innenräumen, ist die beste Gewähr dafür, dass wir im Saldo zwischen Infektionsschutz und Erstarrung des öffentlichen Lebens möglichst viel Leid vermeiden. Gleichzeitig sind alle, die in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Verantwortung tragen, aufgerufen, gemeinsam Anstrengungen unternehmen, um kreative Potenziale zu wecken und innovative Ideen zur Überwindung der Krise und zur Stärkung der Abwehrkräfte anzuregen. Denn in einer erfolgreichen Krisenbewältigung liegen auch Chancen: etwa zur stärkeren Ausrichtung der wirtschaftlichen Leistungen auf nachhaltige Produktion, Produkte und Dienstleistungen, sowie zum Aufbau von robusten Infrastrukturen als Vorsorge gegen künftige Bedrohungen.

Prof. Dr. Ortwin Renn, Geschäftsführender wissenschaftlicher Direktor am Institute for Advanced Sustainability Studies e.V (IASS)


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