Haben Standardlösungen in der Videotechnik ausgedient?

Lesen Sie den originalen Artikel: Haben Standardlösungen in der Videotechnik ausgedient?


Hinten v.l.: Wilhelm Fischer, Andreas Albrecht, Gerhard Harand, Christian Heibges, Jochen Sauer, Tayfun Buyar, Uwe Kühlewind, 
Andreas Conrad, Dirk Ostermann, Robert Köhler. Vorne v.l.: Christian Heller, Tim Hancock, Julian Torgler, Josua Braun.

In der Videotechnik gilt längst nicht mehr nur „Eine für alle“, wenn es um Kameras geht, vielmehr setzen viele Hersteller abseits der Standradlösungen auf Spezialisierung in der Technik und in den Anwendungsbereichen. Die Vorteile und Perspektiven dieses Ansatzes waren Thema beim Forum Videosicherheit 2020.

Moderator Dirk Ostermann schildert zu Beginn der Diskussion seine Eindrücke: „Anstatt Standard-Kameras für alle denkbaren Aufgaben zu entwickeln, habe ich in den letzten Jahren bemerkt, dass viele Anbieter immer stärker bestrebt sind, sich mit ihren Produkten auf bestimmte Anwendungsfelder oder Einsatzgebiete im Videobereich zu spezialisieren. Sei es in Richtung Thermaltechnik, Multifokal-Systeme, Panorama-Kameras, Lösungen für die Fernüberwachung und vieles mehr. Ist das ein allgemeiner Trend? Wie sieht das die Runde, gibt es immer weniger Raum für die Standard-Kamera? Wie steht es um die These: Eine für alle ist out?“

Spezialisierte Multifokal-Kameras bringen Mehrwerte

Josua Braun von Dallmeier berichtet als Anbieter von unter anderem spezialisierten Multifokal-Kameras: „Völlig out finde ich den Ansatz ‚Eine Kamera für alle‘ überhaupt nicht. Wir sehen eher einen Trend hin zur Generalisierung von Produkten. So hat zum Beispiel die Multifocal-Sensortechnik, wie wir sie seit 2011 anbieten, viele Einsatzgebiete. Eine Kamera mit mehreren Sensoren, die über unterschiedliche Brennweiten verfügen und die wir über Software intelligent zusammenfügen, kann natürlich sehr große Bereiche und weite Strecken überwachen. Und so ergeben sich zahlreiche Anwendungsgebiete, wo man auf diese Weise mit deutlich weniger Kamerasystemen und damit Infrastruktur- und Betriebskosten auskommt. Natürlich sind diese Multifokal-Sensorsysteme nicht für alle Anwendungsbereiche sinnvoll, in manchen Bereichen, wie etwa Retail, wären sie sicherlich überdimensioniert.“

Foto: Michael Gückel

Jochen Sauer von Axis (Mitte) findet das Klischee von der eierlegende Wollmilchsau in der Videotechnik unrealistisch.

Jochen Sauer von Axis macht es an der Anwendung fest: „Welche Produkte sich für welche Anwendungen eignen und wie universell oder spezialisiert sie einsetzbar sind, ist immer ein spannende Frage. Die vielzitierte eierlegende Wollmilchsau, die manch einer in der Vergangenheit wohl gerne geschaffen hätte, gibt es nicht. Es wird sie auch nicht geben, sondern es wird immer eine Differenzierung stattfinden – sei es abhängig vom Budget, von der Bauform oder von den Anwendungsbereichen. Manche Aufgabenstellungen wie die Identifizierung erfordern bei Einsatzgebieten, wie Freiflächen, eine extrem hohe Auflösung, andere Einsatzgebiete, wie etwa Eingänge zu Ladengeschäften, nicht unbedingt. Es wird immer die Technik genutzt, bei der das Preis-Leistungsverhältnis adäquat ist und die dem Anforderungsprofil entspricht.“

Christian Heller skizziert den Ansatz seines Unternehmens, das innerhalb eines Geräts viele Individualisierungen und damit Anwendungsmöglichkeiten schafft: „Für uns steht seit Jahren die Öffnung bei gleichzeitiger Beibehaltung, vielleicht sogar Ausweitung der umfassenden Cybersicherheit unserer Produkte und Lösungen im Fokus. Wir realisieren das, indem wir zum Beispiel mindestens zwei Sensoren in unseren Systemen zur Verfügung stellen und durch zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten von Funktionalitäten verschiedenste Anforderungen abdecken können. In unserem neuen Kameramodell M73 auf Basis der Plattform Mobotix 7 konnten wir sogar drei Sensoren integrieren können. Zusammen mit den integrierten und individuell entwickelbaren Apps haben wir vielleicht doch irgendwann die eierlegende Wollmilchsau. Wir denken über den Bereich Videoschutz hinaus und berücksichtigen die Herausforderungen diverser Vertikalmärkte, etwa Industrie- und Produktion, Logistik oder Retail, wo Videoanalysen basierend auf KI- und Deep Learning-Modulen vorausschauend agieren und Schäden jeglicher Art vermeiden können.“

Sind Multisensor und Multifokal bereits Standard in der Videotechnik?

Gerhard Harand vom Distributor Wehrhan TPS berichtet über seine Erfahrungen aus dem Markt: „Wir haben in unserem Programm schon recht lange Multisensorkameras, und ich kann sagen, es hat doch eine ganze Weile gedauert, bis die Errichter und auch die Projektleiter diese Technik in größerem Umfang eingesetzt haben. Man muss eben erst verstehen, wo diese Produkt sinnvoll einzusetzen sind. Und man muss sich bewusst machen, was die kaufmännischen Konsequenzen sind. Gerade für die Multisensormodelle fallen weniger Installationskosten an, was den einen oder anderen Bauherrn überzeugen wird. Man spart eine nicht unerhebliche Summe Geld und Aufwand.“

Foto: Michael Gückel

Gerhard Harand von Wehrhan TPS berichtet über seine Erfahrungen aus dem Distributionssektor.

Dies habe sich in den letzten Jahren deutlich geändert, findet Christian Heibges von Vivotek: „Die allgemeinen Formfaktor-Kameras werden nun zum Standardpaket für Systemintegratoren und Endanwender, die Nachfrage nach einigen Kameratypen wie 180/360-Grad-Kameras und Kameras mit mehreren Sensoren wächst besonders schnell. Sie sind aus zwei Gründen eher bereit, diese spezialisierten Kameras zu akzeptieren. Zum einen die erhöhte Kapitalrendite. Da eine Kamera mit mehreren Sensoren einen größeren Bereich abdecken kann, spart der Nutzer nicht nur Anschaffungskosten für weitere Geräte, sondern auch Installationskosten und -zeit. Darüber hinaus spielt auch die Videoanalyse eine besondere Rolle, da der Nutzer mit nur einem Gerät eine Vielzahl von Analysemöglichkeiten erhält. Auch der Errichter gewinnt, da er seinen Kunden mit den zusätzlichen Mehrwerten überzeugen kann und dabei die Verwaltung des Videosystems weiter vereinfacht.“

Panorama- und Multifokalkameras haben klare Vorteile

Die Vorzüge der Praxis kann Wilhelm Fischer vom Errichterbetrieb Netzwerktechnik-Fischer nur bestätigen: „Panorama- und Multifokalkameras haben ihre klaren Vorteile, sowohl in der speziellen Anwendungsmöglichkeit als auch in Sachen Investition. Ich installiere diese Kameras auch bei Anwendern, die Geld sparen möchten. Damit lassen sich meist mehrere herkömmliche Kameras ersetzten, und auch die Installationskosten sinken, ich muss nur ein Netzwerkkabel verlegen, eine Kamera konfigurieren und kann schneller das Projekt abschließen. Aber natürlich muss sich der Kunde manchmal auch an die Formate dieser Kameras gewöhnen, insbesondere, wenn sie hemisphärische Bilder liefern.“

Foto: Michael Gückel

Robert Köhler von Avigilon glaubt, dass sich Multifokallechnik in vielen Bereichen duchsetzt.

Robert Köhler von Avigilon ist überzeugt, dass sich die Technik mehr und mehr duchsetzt, mahnt aber auch einen bedachten Einsatz an: „Inzwischen hat so gut wie jeder Hersteller Multifokalkameras im Angebot, weil es dafür durchaus einige sinnvolle Anwendungen gibt. Andererseits sehe ich, dass viele Kunden sagen: Ich brauche mehr Intelligenz und Analysefunktionen in den Kameras. Fixkameras mit Analyse sind schon viele verfügbar, bei Multifokalkameras muss man da noch nachziehen. Die generelle Frage ist eben die nach dem Einsatzort und -zweck. Es hat keinen Sinn, eine Panoramakamera zur Überwachung einer einzelnen Eingangstür einzusetzen. Hier nutzt man eine Standrad-Fixkamera. Wenn es aber um die Überwachung großer Areale geht, kann eine Panoramakamera viele Standrad-Kameras ersetzen, was dann effizienter ist.“

Passende Kameras Werkzeuge für jeden Einsatzzweck der Videosicherheit

Dass sich die Technik nach den Einsatzzweck richten muss, davon ist auch Uwe Kühlewind von Bosch Sicherheitssysteme überzeugt: „Eine Kamera ist immer ein Werkzeug für einen bestimmten Zweck. Man kann das gut vergleichen mit der Kombizange, die sicherlich die erfolgreichste Zange auf dem Markt ist, aber nicht unbedingt die Beste für jede Anwendung. Es kommt also immer auf die Aufgabe an. Und die zunehmende Intelligenz in der Kamera folgt sicherlich einem Trend: Man will zusätzlich zu den Bildern mehr Metadaten über den Bildinhalt erfassen. Also verstehen wir die Kamera als Sensor, mit dem man je nach Anwendungsbereich und mit Hilfe von Analytik die gewünschten Daten erzeugt.“

Für Tim Hancock ist es auch eine strategische Entscheidung, wie Hersteller ihr Portfolio gestalten: „Als Kamerahersteller hat man ja prinzipiell zwei Möglichkeiten: Entweder man entwickelt in Richtung Nischenprodukte und konzentriert sich auf eine bestimmte Lösung, auf einen besonderen Marktanteil – oder man versucht, sich breit aufzustellen, um alles abzudecken, was man kann. Dann braucht man eine große Bandbreite an Kameraspezifikationen, von High-end zu Low-end. Das hat aber auch mit der Größe des Unternehmens zu tun, wie viele Bereiche man aus Gründen der Produktionskapazität abdecken kann.“

Foto: Michael Gückel

Tim Hancock von Hikvision (Mitte) betont, dass ein Kamerahersteller, der versucht, alles abzudecken, von High-end zu Low-end eine große Bandbreite an Kameraspezifikationen braucht.

Eine Spezialisierung in der Technik und im Produktangebot ergibt auch für Andreas Conrad durchaus Sinn: „Das Thema Vertikalisierung hat bei uns immer eine große Rolle gespielt, also die Ausrichtung auf Branchen wie Retail, Transportation, Logistik und so weiter. Hier steht zuallererst im Mittelpunkt, was der Kunde mit einer Anlage erreichen will. Daraus leitet sich dann ab, mit welcher Technologie ich das lösen kann. Dabei fragt man sich auch: Welchen konkreten Nutzen bietet mir ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Funktionalität? Dabei zeigt sich, dass im Markt viele Lösungen verfügbar sind, die für gewisse Anwendungsbereiche durchaus Sinn ergeben, die aber manchmal nur einen sehr kleinen Teil eines Marktes oder eines Segmentes adressieren.“

Intelligenz in den Kameras als Unterscheidungskriterium für Anwnder

Für Robert Köhler steht an erster Stelle, die Kundenwünsche abzufragen und dann gezielt Mehrwerte anbieten zu können: „Wir müssen als Berater der Endkunden fungieren und gerade bei neuen intelligenten Funktionalitäten genau erläutern, wozu und für wen sie sinnig sind. Es gibt verschiedene Arten von Analyse, und man vermischt schnell die Perimeter-Analyse mit der Analyse im Sinne von Business Intelligence. Geht es also um Personenzählung in einem Laden und das Erstellen einer Heat-Map oder um die Erkennung von Gefahren im Außenbreich und eine entsprechende Alarmierung? Je nach Anforderung muss man mit anderen Leuten sprechen, einmal dem Marketingverantwortlichen und einmal mit dem Sicherheitsverantwortlichen. Diese beiden haben sehr unterschiedliche Ziele mit Videotechnik und -analyse.“

Gerhard Harand ergänzt: „Am Perimeter werden wahrscheinlich 90 oder 95 Prozent der Anlagen heutzutage Analyse haben. Personenzählung an einem Eingang ist auch schon relativ verbreitet. Echte Business Intelligence profitiert natürlich von steigender Intelligenz in der Kamera und ermöglicht es, Daten im Detail auszuwerten, zu verknüpfen und maßgeschneiderte Berichte zu erstellen. Wenn ein Kunde das benötigt und entsprechend investiert, ist die passende Technik dafür verfügbar. Aber in der Masse sind die Kunden noch nicht so weit.“

Foto: Michael Gückel

Gelöste Stimmung herrschte zu Beginn der Debatte im Plenum des Forums Videosicherheit 2020.

Dass Analyse immer häufiger gewinnbringend eingesetzt werden kann, findet auch Christian Heibges: „Jeder vertikale Markt bringt auch immer seine Anforderungen und Herausforderungen mit sich. So wird eine Personenzählkamera mit verbauter Intelligenz im öffentlichen Nahverkehr zu gänzlich anderen Zwecken genutzt wie im Einzelhandel. Es geht darum, Analysemöglichkeiten passgenau auf die Anwendung zuzuschneiden und Kundenprobleme zu lösen. Im Sicherheitsgeschäft geht es nicht mehr um den Preis, sondern um die Mehrwerte für verschiedene Anwendungen.“

Video geht über klassische Security hinaus in Geschäftsprozesse hinein

Andreas Conrad kann den Trend bestätigen und bekräftigt: „Wir gehen mit der Videotechnik immer öfter über die klassische Security hinaus und in die Geschäftsprozesse hinein. Wir befassen uns schon länger mit Logistik, Transport und Retail – hier findet sich viel Wachstumspotential jenseits der klassischen Security. Immer öfter erleben wir inzwischen Situationen, wo Projekte aus dem Bereich Business Operations getrieben werden und Security manchmal nur ein Nebenaspekt ist.“

Ein ähnliches Bild zeichnet Uwe Kühlewind: „Es ist sicherlich richtig, dass wir über den Security-Bereich hinausgehen und wir mit unserer Technik immer stärker auch Geschäftsprozesse optimieren. Andererseits sehe ich auch, dass man neue Anwendungsgebiete, beispielsweise von der Security hin zu Safety, entwickelt. Ein Beispiel hier ist die videogestützte Brandfrüherkennung, welche Videokameras auf neue Weise nutzt.“

Foto: Michael Gückel

Tayfun

[…]


Lesen Sie den originalen Artikel: Haben Standardlösungen in der Videotechnik ausgedient?